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„Eine Schande für unsere Stadt“: Das Treffen der ehemaligen Waffen-SS-Division „Das Reich“ in Rosenheim, Herbst 1971

Als militärische Eliteeinheit stellte die Waffen-SS während des Zweiten Weltkriegs eine Art „zweites Heer“ neben der Wehrmacht dar. 1944 erreichte sie mit knapp 600.000 Mann ihre höchste Personalstärke.[1] Die Mitglieder der Waffen-SS waren hochgradig ideologisiert und galten als besonders kampfstark – teils waren sie in schwerste Kriegsverbrechen verwickelt. Nach 1945 organisierten sich Veteranen in verschiedenen Interessensvereinigungen. Die wohl bekannteste war die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“ (HIAG). Ihr erklärtes Ziel war es, das Bild der Waffen-SS zu rehabilitieren, indem sie deren Rolle im NS-Regime als eine rein militärische im Sinne der konventionellen Kriegsführung darzustellen versuchte.[2]

In der Bundesrepublik stießen diese Bemühungen auf gemischte Reaktionen: Während rechte Strömungen – und sogar die politische Mitte – anfangs Verständnis für die Belange der HIAG zeigten, lehnten andere Teile der Gesellschaft, insbesondere Überlebende des Holocaust und antifaschistische Gruppierungen, die Aktivitäten von Waffen-SS-Veteranen entschieden ab. Erst mit der zunehmenden öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ab den 1970er Jahren gerieten die Ehemaligennetzwerke auch gesamtgesellschaftlich in die Kritik.[3] Der folgende Text illustriert dies anhand einer konkreten Episode, die sich 1971 in Rosenheim abspielte.

Gründung der Truppenkameradschaft „Das Reich“

Im Sommer 1971 verschickten die ehemaligen Waffen-SS-Kommandeure Paul Hausser (1880–1972) und Günther-Eberhardt Wisliceny (1912–1985) in Kooperation mit der HIAG ein Rundschreiben an ehemalige Angehörige der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ bzw. deren Vorgängerverbände innerhalb der Waffen-SS. In dem gemeinsam unterzeichneten Schreiben wurde zur Gründung einer Truppenkameradschaft „Das Reich“ aufgerufen. Zu diesem Zweck sollte ein offizielles Gründungstreffen am 16. Oktober 1971 in Rosenheim stattfinden. Hausser und Wisliceny betonten, dass die Veranstaltung auch dem solidarischen Austausch zwischen ehemaligen Divisionsangehörigen sowie der gemeinsamen Erinnerung an gefallene Kameraden dienen solle. Als weiteres Anliegen wurde das Thema der Vermisstensuche benannt, da auch 26 Jahre nach Kriegsende noch zahlreiche Schicksale ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS ungeklärt waren.[4]

Ursprünglich war geplant, die Kameradschaftsgründung in einem Rosenheimer Hotel durchzuführen, welches über einen Veranstaltungssaal für 80 Personen verfügte.[5] Da sich jedoch in der weiteren Vorbereitung eine höhere Zahl an Teilnehmenden abzeichnete, verlagerte man die Veranstaltung in die Inntalhalle.

Widerstand in Rosenheim

Im Vorfeld des Treffens regte sich Protest. Von verschiedener Seite wurde ein Verbot der Zusammenkunft von Waffen-SS-Veteranen gefordert. Die Rosenheimer Stadtverwaltung konnte allerdings rechtlich nichts gegen die Veranstaltung unternehmen.[6] Dies dürfte die Empörung zahlreicher Bürgerinnen und Bürgern zusätzlich verstärkt haben.

In einem Flugblatt des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), unterzeichnet von dessen Rosenheimer Funktionär Walter Schlosser, wurde die geplante Gründung einer Waffen-SS-Truppenkameradschaft als „eine Schande für unsere Stadt“ bezeichnet. Schlosser forderte die Zivilgesellschaft auf, geschlossen gegen die Veranstaltung zu protestieren.[7] Zu den weiteren Akteuren, die sich gegen die Zusammenkunft der Waffen-SS-Veteranen positionierten, zählten der Bezirksvorstand der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), der Landesvorstand der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), der Münchner Kreisjugendring, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) sowie antifaschistische Organisationen in Frankreich und der Tschechoslowakei.[8] Auch Schülerinnen und Schüler der Rosenheimer Gymnasien sowie weitere engagierte Bürgerinnen und Bürger schlossen sich den Protesten an.[9]

Als Beispiel für die zahlreichen Kriegsverbrechen, an denen die Waffen-SS-Division „Das Reich“ beteiligt gewesen war, wurde wiederholt die Ermordung der Bewohnerinnen und Bewohner des französischen Dorfs Oradour angeführt. Dabei handelte es sich um eines der schlimmsten Massaker in Westeuropa während des Zweiten Weltkriegs: Am 10. Juni 1944 trieben Angehörige der Waffen-SS unter Leitung des Bataillonskommandeurs Adolf Diekmann (1914–1944) die Dorfgemeinschaft Oradours zunächst auf dem Marktplatz zusammen. Die männlichen Einwohner wurden in verschiedene Gebäude gebracht und in diesen erschossen. Die Frauen und Kinder wurden in der Kirche des Dorfes eingesperrt. Dort zündeten die Täter eine Sprengladung und attackierten die Opfer zusätzlich mit Maschinengewehren und Granaten. Anschließend plünderten die Waffen-SS-Einheiten das gesamte Dorf und brannten es nieder. Insgesamt starben 643 Menschen, nur wenige überlebten das Massaker. Oradour wurde nicht wieder aufgebaut und ist heute ein Ruinendorf mit einer Gedenkstätte.[10]

Ablauf des Treffens

Trotz dieser schrecklichen Erkenntnisse fand das Gründungstreffen am 16. Oktober 1971 wie geplant in Rosenheim statt. Zahlreiche Demonstrierende aus anderen Städten reisten an, um sich an einem organisierten Protestmarsch zu beteiligen.[11] Dieser begann am Rosenheimer Gewerkschaftshaus[12] und zog in Richtung Inntalhalle durch die Stadt. Neben der Lokalpresse[13] berichteten auch überregionale und sogar ausländische Medien über das Ereignis.[14] Insgesamt demonstrierten rund 600 Personen. Lautstark brachten sie ihren Unmut über die Anwesenheit der ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen in Rosenheim zum Ausdruck. Zwei Züge der Bayerischen Bereitschaftspolizei unterstützten die Stadtpolizei dabei, die Menge vor dem Veranstaltungsort abzuriegeln, auch um deren Eindringen in die Inntalhalle zu verhindern.[15] Die Protestierenden kritisierten die aus ihrer Sicht übermäßige Polizeipräsenz und skandierten in Sprechchören: „Liebe Polizisten, schützt doch keine Faschisten.“[16]

Polizisten riegeln den Protestzug vor der Inntalhalle ab. Foto: picture-alliance / akg-images.

Ungeachtet des vehementen Protests vor der Inntalhalle, die für 650 Gäste hergerichtet worden war, konnte die Veranstaltung ohne nennenswerte Verzögerung beginnen. Zunächst standen Formalia auf dem Programm: Günther-Eberhardt Wisliceny wurde zum Ersten Vorsitzenden der neuen Truppenkameradschaft gewählt, gefolgt von Rudolf Lehmann (1914–1983), der bei Kriegsende letzter Kommandeur der Division „Das Reich“ gewesen war. Dritter Vorsitzender wurde der ehemalige SS-Sturmbannführer Heinz Werner (1917–1978). Insgesamt wurden auf dem Gründungstreffen 180 Beitrittserklärungen abgegeben.[17] Nachdem alle Ämter und Positionen für die Truppenkameradschaft festgelegt worden waren, hielt man eine Totenehrung ab.

Bezüglich des Massakers von Oradour zeigten die Anwesenden keinerlei Reue. Eine selbstkritische Auseinandersetzung, auch mit anderen Kriegsverbrechen der Division „Das Reich“, blieb aus. Günther-Eberhardt Wisliceny äußerte sich zynisch zu den Vorfällen in Frankreich und behauptete, diese seien keine Kriegsverbrechen gewesen, sondern legitime Reaktionen auf den Widerstand französischer Partisanen.[18] Tatsächlich besteht aus Sicht der historischen Forschung jedoch kein Zweifel daran, dass es sich beim Massaker von Oradour um ein Kriegsverbrechen handelte, das vorsätzlich an Zivilistinnen und Zivilisten begangen wurde.[19]

Paul Hausser, der in der Waffen-SS zu den ranghöchsten Kommandeuren gezählt hatte und auch innerhalb der HIAG eine Schlüsselfigur war, war bei der Veranstaltung in Rosenheim als Ehrengast anwesend. Er wurde auch zum Ehrenvorsitzenden der neuen Truppenkameradschaft ernannt. In der Inntalhalle hielt Hausser eine mit tosendem Applaus quittierte Rede, in der er die Solidarität unter ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS lobte.[20]

Ein Teilnehmender der Veranstaltung zeigt den Hitlergruß. Foto: picture-alliance / akg-images.

Anschließend begann der „inoffizielle gemütliche Teil“[21] der Veranstaltung. Es wurde Musik gespielt und getrunken, die ehemaligen Divisionsangehörigen feierten bis tief in die Nacht. Erst spät verließen die letzten Teilnehmenden – wohlgemerkt unter Polizeischutz – den Veranstaltungsort.[22]

Nachhall der Veranstaltung

Über das Treffen wurde in der in- und ausländischen Presse ausführlich berichtet. Das ZDF-Fernsehmagazin „Kennzeichen D“ produzierte eine Sendung mit dem Titel „SS in Rosenheim“, die am 11.11.1971 ausgestrahlt wurde. Der Beitrag beleuchtete die Biographien früherer Funktionäre der Waffen-SS, die an der Veranstaltung teilnahmen.[23]

Obwohl das Treffen in der Inntalhalle also umfassend dokumentiert wurde, geriet es im kollektiven Geschichtsbewusstsein der Stadt Rosenheim überraschenderweise in Vergessenheit.

Im Oktober 1972, rund ein Jahr nach dem Gründungstreffen in Rosenheim, verschickte der Vorstand der Truppenkameradschaft „Das Reich“ ein Rundschreiben an seine Mitglieder. Aus diesem ging hervor, dass die Truppenkameradschaft inzwischen ins Vereinsregister der Stadt München eingetragen worden war, man aber künftig – vermutlich auch und gerade in Anbetracht der massiven Proteste anlässlich des Gründungstreffens in Rosenheim – öffentliches Aufsehen eher vermeiden wolle.[24] Dies ist ein deutliches Indiz für den öffentlichen Reputations- und Bedeutungsverlust, von dem „Das Reich“ von Anfang an betroffen war. Ähnlich erging es vielen Interessensvereinigungen von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS ab den 1970er Jahren.[25]

Innerhalb der Truppenkameradschaft blieb der Austausch jedoch rege, und im Laufe der Jahre wurden weitere Zusammenkünfte organisiert. Bei einem dieser Treffen, im Oktober 1974, wurde in einem Wortbeitrag betont, man wolle sich bei der weiteren Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht von „offiziellen Geschichtsschreibungen“ beeinflussen lassen – ein erneutes Indiz für das Nichtvorhandensein von Schuldbewusstsein und historischer Verantwortung.[26]

Umso wichtiger war aus heutiger Sicht der zivilgesellschaftliche Protest, der 1971 in Rosenheim an den Tag gelegt wurde. Mutige und engagierte Menschen hatten ein deutliches und lautes Zeichen gegen rechtsextreme, ewiggestrige Verbrecher gesetzt. Rückblickend dürfte es sich um eines der frühesten Kapitel einer kritischen Erinnerungskultur zur NS-Zeit in Rosenheim gehandelt haben.


[1] Longerich, Peter (2024): Waffen-SS. Hg. v. NS-Dokumentationszentrum München, nsdoku.lexikon. Online verfügbar unter https://www.nsdoku.de/lexikon/artikel/waffen-ss-863.

[2] Wilke, Karsten (2011): Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) 1950–1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik. Paderborn: Schöningh.

[3] Ebd.

[4] Aufruf von Paul Hausser und Günther-Eberhardt Wisliceny zur Gründung einer „Truppenkameradschaft“ der ehemaligen Angehörigen der SS-Verfügungstruppe und späteren Division „Das Reich“ (o. D.), Bundesarchiv, N 756/115.

[5] Protestzug gegen SS-Treffen. In: Augsburger Allgemeine (16.10.1971).

[6] Aufruf von Walter Schlosser (DGB, Kreis Rosenheim): „SS – raus aus Rosenheim!“ (o. D.), Bundesarchiv, N 756/115.

[7] Ebd.

[8] Protest gegen die Mörder von Oradour (1971). In: Unsere Zeit 43.

[9] Transparente, Fahnen und Sprechchöre vor Inntal-Halle. Protestmarsch des DGB gegen SS-Divisions-Treffen in Rosenheim – Großer Polizeieinsatz – Ungebetene DKP. In: Oberbayerisches Volksblatt (18.10.1971).

[10] Erkenbrecher, Andrea (2024): Das Massaker in Oradour-sur-Glane. Online verfügbar unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/oradour-sur-glane-1944.

[11] Demonstranten kämpfen gegen Waffen-SS. Trotz Proteste wird der Traditionsverband der früheren Panzerdivision „Das Reich“ in Rosenheim gegründet. In: Süddeutsche Zeitung (18.10.1971).

[12] Flugblatt der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, Landesverband Bayern: „Jetzt haben wir die Nazis satt, Nazis RAUS aus dieser Stadt!“ (o. D.), Bundesarchiv, N 756/115.

[13] Transparente, Fahnen und Sprechchöre vor Inntal-Halle. Protestmarsch des DGB gegen SS-Divisions-Treffen in Rosenheim – Großer Polizeieinsatz – Ungebetene DKP. In: Oberbayerisches Volksblatt (18.10.1971).

[14] Demonstranten kämpfen gegen Waffen-SS. Trotz Proteste wird der Traditionsverband der früheren Panzerdivision „Das Reich“ in Rosenheim gegründet. In: Süddeutsche Zeitung (18.10.1971); Protest tegen SS-Reunie. In: de Volkskrant (18.10.1971); Nazibödlarna firade massmords-minnen. In: Aftonbladet (24.10.1971).

[15] Mit Plakaten gegen die SS. In: Augsburger Allgemeine (18.10.1971).

[16] Demonstranten kämpfen gegen Waffen-SS. Trotz Proteste wird der Traditionsverband der früheren Panzerdivision „Das Reich“ in Rosenheim gegründet. In: Süddeutsche Zeitung (18.10.1971).

[17] Bericht „Truppenkameradschaft ‚Das Reich‘ gegründet“ (16.10.1971), Bundesarchiv, N 756/115.

[18] Demonstranten kämpfen gegen Waffen-SS. Trotz Proteste wird der Traditionsverband der früheren Panzerdivision „Das Reich“ in Rosenheim gegründet. In: Süddeutsche Zeitung (18.10.1971).

[19] Erkenbrecher, Andrea (2024): Das Massaker in Oradour-sur-Glane. Online verfügbar unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/oradour-sur-glane-1944.

[20] Bericht „Truppenkameradschaft ‚Das Reich‘ gegründet“ (16.10.1971), Bundesarchiv, N 756/115.

[21] Ebd.

[22] Ebd.

[23] Als KZ-Bewacher „bewährt“. Fernsehbericht über die Rosenheimer SS-Gründung. Ausschnitt aus unbekannter Zeitung (o. D.), Bundesarchiv, N 756/115.

[24] Rundschreiben an die Mitglieder der Truppenkameradschaft „Das Reich e.V.“ (ca. Oktober 1972), Bundesarchiv, N 756/115.

[25] Eichmüller, Andreas (2018): Die SS in der Bundesrepublik. Debatten und Diskurse über ehemalige SS-Angehörige 1949–1985. Berlin/Boston: De Gruyter. Vgl. insbesondere den Abschnitt „Bedeutungsverlust (1971–1980)“ im Kapitel „Öffentliche Treffen und Veranstaltungen von Organisationen ehemaliger SS-Angehöriger“.

[26] „Schön war‘s im Odenwald …! Bericht vom Treffen des AR 2 ‚DR‘ am 12./13. Oktober 1974“ (ca. 1974/1975), Bundesarchiv, N 756/115.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Christian Höschler (10. Februar 2025). „Eine Schande für unsere Stadt“: Das Treffen der ehemaligen Waffen-SS-Division „Das Reich“ in Rosenheim, Herbst 1971. Rosenheimer Miszellen. Abgerufen am 24. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13ji6


Christian Höschler

Dr. Christian Höschler ist Historiker und Leiter des Stadtarchivs Rosenheim. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. die Geschichte der Displaced Persons, Erinnerungskultur und (digitale) Bildungsformate.

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